Herr Jositsch, braucht es eine Neubewertung der Arbeit aufgrund der sich ändernden Rahmenbedingungen und beschleunigten Digitalisierung?

Arbeit hat eine neue Ausgestaltung erfahren. Früher fuhren wir zur Arbeit, loggten uns ein, nach dem Arbeitstag loggten wir uns aus und fuhren nachhause. Während den Ferien waren wir nicht erreichbar. Heute haben wir über das Smartphone nicht nur das Telefon, sondern auch den Briefkasten und den Computer immer dabei. Arbeit und Nicht-Arbeit sind nicht mehr scharf getrennt, der Umgang damit ist ungeklärt.

Homeoffice hat im Arbeitsalltag einen neuen Stellenwert. Brauchen wir da nicht entsprechend neue Regelungen?

Auch hier sind Abgrenzungen schwierig. Homeoffice bedeutet nicht, dass jemand 24 Stunden erreichbar ist. Aber auch nicht, dass Arbeit und Kleinkindbetreuung gleichzeitig möglich ist. Ein Diskurs zwischen den Sozialpartnern und in der Gesellschaft kann zu guten Lösungen führen. Dann braucht es aber auch gewisse Gesetzesanpassungen.

Beschleunigte Digitalisierung, künstliche Intelligenz, Algorithmen — geht uns die Arbeit aus?

Diese Angst hat es immer schon gegeben. Einige meiner Kollegen absolvierten eine Banklehre und arbeiteten am Schalter. Mit der Erfindung des Bancomaten wurden die Schalterhallen weitgehend überflüssig. Viele Menschen waren davon betroffen. Und doch gibt es heute nicht weniger Bankangestellte als in den 1970ern. Ihre Aufgaben haben sich nur verändert. Solche Verlagerungen wird es auch mit der Digitalisierung wieder geben. Das bedeutet Umorientierung, Umschulung und kann, individuell betrachtet, eine hohe Hürde sein. Die enorme Geschwindigkeit dieser Prozesse ist anspruchsvoll. Ängste, abgehängt zu werden, sind daher verständlich. Deshalb bieten wir im Kaufmännischen Verband unseren Mitgliedern ein breites Weiterbildungsangebot, das sie bei der beruflichen Um- und Weiterbildung unterstützt.

Weiterbildung und lebenslanges Lernen sind das Mantra der Stunde. Zu Recht?

Ab 30 gründen viele eine Familie, die Belastung und Verantwortung im Job nimmt zu. Weiterbildung wird zur Zeitfrage. Wenn dann jemand mit 50 die Stelle verliert und in den letzten 15 Jahren keine zukunftsgerichtete, solide Weiterbildung abgeschlossen hat, wird es schwierig. Das hat mit der Bereitschaft gewisser Arbeitgeber zu tun, teilweise aber auch mit der Einstellung von Arbeitssuchenden.

Wäre denn Weiterbildung während der Arbeitszeit ein Lösungsansatz?

Das wäre ein möglicher Weg, doch wer soll das bezahlen? Weiterbildung ist auch eine gesellschaftliche Verantwortung. Erinnern wir uns: Früher gingen die Männer einmal im Jahr drei Wochen in den WK, bezahlt durch den Staat über die Erwerbsersatzordnung. Heute geht noch rund die Hälfte ins Militär und die andere Hälfte steht einfach zur Verfügung. Angesichts der heutigen Herausforderungen müssten wir zum Schluss kommen, dass diese Zeit neu definiert wird und jede und jeder jährlich eine Art Weiterbildungs-WK absolviert.

Wie wird dieser Weiterbildungs-WK auf politischer Ebene vorangetrieben?

Es gab Vorstösse in diese Richtung, auch von mir, aber diese waren (noch) nicht mehrheitsfähig.

Ist das politische System zu langsam?

Umdenken braucht Zeit und die Politik bildet die Gesellschaft ab. Von daher müsste man sagen, die Gesellschaft hinkt den Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt hinterher. Das gelebte und bewährte Angebots-Dreieck «Ausbildung / Laufbahn- und Karriereberatung / Weiterbildung» des Kaufmännischen Verbands spielt allerdings eine zentrale Rolle. Wir können die Menschen während ihrer gesamten Laufbahn sehr gut begleiten.


Das Gespräch mit Daniel Jositsch, Ständerat und Präsident des Kaufmännischen Verbands Schweiz führte Sabina Erni. Sie ist Leiterin Beruf und Innovation beim Kaufmännischen Verband Zürich.