Essen im Gehen, simsen beim Fahren, Multitasking, Deadlines: Es ist schon seltsam: wir sparen in unserem Alltag immer mehr Zeit, und doch haben wir anscheinend immer weniger davon.

Die durchschnittliche Schlafdauer des modernen Menschen seit dem 19. Jahrhundert um zwei Stunden und seit den Siebzigerjahren um 30 Minuten abgenommen. Zudem verkürzt der Mensch zunehmend die Zeit, die er braucht, um von A nach B zu gelangen, die Gehgeschwindigkeit stimmt stetig zu. Ein britischer Psychologe hat in 32 Städten der Erde untersucht, in welchem Tempo Passanten sich fortbewegen. Er kam zum Ergebnis, dass die Geschwindigkeit innerhalb eines Jahrzehnts um rund zehn Prozent zugenommen hat. Aber auch in anderen Alltagsbereichen hat der Mensch sein Leben durchgetaktet und von Verschnaufpausen befreit. Oder in den Worten von Martin Liebmann: „Wir haben eine Diktatur der Ökonomie, die sich in alle Lebensbereiche gefressen hat.“ Oder Karlheinz Geissler, ein bekannter Zeitforscher aus Deutschland: „Der Mensch gönnt sich immer seltener Pausen. Dabei ist Pausenentzug eine Form von Folter.“

Allmählich dämmert es einer wachsenden Zahl von Menschen, was beim Rumhetzen so alles auf der Strecke bleibt: Erkenntnis, Freundschaften, die eigene Gesundheit, Genuss und Spass. Was bei all dem Gehetze ebenso verloren geht, ist die Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge zu erkennen, nachzudenken, zu verstehen. Vor allem Arbeitsprozesse haben sich derart verdichtet, dass selbst hochspezialisierte Fachkräfte oft nicht mehr erklären können, was genau sie eigentlich von morgens bis abends, und oft noch am Wochenende, tun. So kann kaum noch ein Mensch ernsthaft behaupten, er verstünde etwa, was bei internationalen Börsengeschäften im Einzelnen vor sich geht, deren Tempo sich in den vergangenen Jahren vertausendfacht hat. Transaktionen finden automatisiert und weltumspannend in Mikrosekunden statt, mit realen Auswirkungen, die verheerend sein können.

Zweifellos ist es wichtig, dass wir schnell sein können. Nicht wichtig und fürs Überleben schon gar nicht notwendig ist es, dass wir immer und überall schnell sind. In annähernd allen Hochkulturen waren Geduld, Gelassenheit und Beharrlichkeit und auch Langsamkeit Zeichen der Würde, der Klugheit und der Selbstachtung. Die, die schneller als das Leben sein wollten, bekommen Probleme mit der Wirklichkeit und der Realitätseinsicht. Sophokles etwa warnte in seinem König Ödipus vor übereiltem Denken: „Wer schnell denkt, strauchelt leicht.“ Schnelles Denken ist, wie auch das schnelle Glück, eine relativ junge „Erfindung“. Bewundert und prämiert wird es erst, seitdem die Zeit und mit ihr die Menschen sich auf der Flucht befinden.

Wer in seinen Entscheidungen bewusst Langsamkeit einbezieht, kommt oft schneller, sicherer und weniger erschöpft ans Ziel als der Hastige. Ohne Geduld, Beharrlichkeit, Langmut und Besonnenheit existieren keine Freiheiten des Denkens, Fragens und Handelns. Wirkliche Freiheit gedeiht nur auf dem frucht-baren Boden des Zeithabens und des Zeitlassens.

Ich wünsche uns allen ein neues Jahr mit einem bewussteren Umgang mit der Zeit – mehr Zeit für Reflektion und Gelassenheit, für Begegnungen und Gespräche, aber auch für Freude an den kleinen Dingen im Alltag.