Wir setzen materielle Werte mit Glück gleich. War das schon immer so? Wieso ist es nie genug? Und macht Konsumverzicht wirklich glücklicher? Mathias Binswanger im Gespräch.

Wir setzen materielle Werte mit Glück gleich — war das schon immer so?

Seit der industriellen Revolution ist die Wirtschaft auf dauerndes Wachstum ausgerichtet. Dadurch wurde die Idee eines stets steigenden materiellen Wohlstandes zum ökonomischen Leitgedanken. Tatsächlich leben wir viel besser als frühere Generationen. Trotzdem zeigt sich in hochentwickelten Ländern: Ist ein gewisses Niveau erreicht, gewinnen andere Faktoren wie das Sozialleben an Bedeutung für die Steigerung der Zufriedenheit. Kurz: Mehr Geld macht glücklich, aber nur bis zu einer gewissen Grenze.

Auch wenn wir (fast) alles haben — es finden sich stets neue Bedürfnisse. Wieso haben wir nie genug?

Wir alle wissen eigentlich, dass Glück nicht in immer mehr materiellem Wohlstand liegt. Viel wichtiger sind funktionierende soziale Beziehungen und dass wir Erfüllung finden in dem, was wir machen. Doch das Wirtschaftssystem weckt in uns ständig Bedürfnisse, die es zu befriedigen gilt. Ein Beispiel: Heute hat in der Schweiz praktisch jeder ein Auto, der das
will. Wenn es nur um Mobilität ginge, wäre der Automobilmarkt deshalb gesättigt. Wenn man aber ein Bedürfnis nach einem stets grösseren und leistungsfähigeren Auto wecken kann, wird das Wachstum weitergehen

Die einen wünschen sich ein eigenes Haus, andere sind mit einer kleinen Mietwohnung zufrieden. Ist das eine Frage des Charakters?

Es gibt sicher Menschen, denen materieller Wohlstand wichtiger ist als anderen. Gleichzeitig richten sich die Bedürfnisse auch daran, wer in einer Gesellschaft Achtung und Ansehen geniesst. Faktoren, die bei uns meist mit Wohlstand verbunden sind. Das hat zur Folge, dass Menschen, die dem nicht grosse Bedeutung beimessen, mit einem gewissen Argwohn betrachtet werden. So reagierten Menschen zum Teil mit völligem Unverständnis, als ich ein Occasionsauto gefahren bin. Schliesslich hätte ich mir doch als Professor einen teuren SUV leisten können.

Kann Bescheidenheit helfen, erfüllter durchs Leben zu gehen?

Das hilft oft, denn dadurch passt man die angestrebten Ziele der Realität an und sie können tatsächlich verwirklicht werden. Zentral ist es auch, sich zu fragen: Was ist mir wirklich wichtig? Meist sind es Dinge, die mit materiellem Wohlstand wenig oder nichts zu tun haben.

Welche Rolle spielt die Arbeitszufriedenheit für das persönliche Glück?

Eine zentrale! Denn da verbringt man einen Grossteil seines Lebens. Intrinsische Motivation ist dabei mindestens so wichtig wie ein anständiger Lohn. Denn Freude am Job ist durch Geld nicht aufzuwiegen. Für die meisten Menschen trägt auch selbstbestimmtes Arbeiten wesentlich zur Zufriedenheit bei. In unserer Arbeitswelt jedoch herrscht oft eine Leistungskultur: Ständig müssen wir beweisen, wie leistungsfähig wir sind. Der Druck wirkt sich negativ auf die Zufriedenheit am Arbeitsplatz aus.

Konsumverzicht ist im Trend: weniger Fliegen, weniger Fleisch essen … Löst der selbstgewählte Mangel positive Gefühle aus?

Verzicht ist nicht selten sogar eine Bedingung für Glück! Denn steht immer alles zur Verfügung, verlieren die Dinge ihr Glückspotenzial. Auch die Vorfreude ist ein Glücksbringer: Wenn man auf etwas hinarbeitet und es dann erreicht, ist das Hochgefühl weitaus grösser und nachhaltiger, als wenn einem etwas einfach so zufällt.

Hat die Coronakrise den Blick auf das persönliche Glück verändert?

Vielleicht für kurze Zeit, aber ich glaube nicht, dass die sozialen Auswirkungen wie beispielsweise Nachbarschaftshilfe nachhaltig sein werden. Anders ist es beim Homeoffice. Wir wissen, dass die Menschen an einem Arbeitstag beim Pendeln zur Arbeit am unglücklichsten sind. Die Möglichkeit, von zu Hause aus zu arbeiten, kann sich längerfristig positiv auf die Zufriedenheit der Menschen auswirken. Denn dadurch wird die individuelle Zeitgestaltung wieder vermehrt möglich, ein wichtiger Faktor für das Lebensglück.

Wie nachhaltig ist Glück?

Wenn man damit Lebenszufriedenheit meint, kann Glück nachhaltig sein. Grosse Glücksmomente sind relativ selten im Leben. Es geht deshalb auch darum, sich an kleinen Dingen zu erfreuen, denn diese begegnen uns täglich: Wenn man es schafft, sich über den morgendlichen Kaffee oder die plötzlich auftretenden Sonnenstrahlen zu freuen, ist das ein wesentlicher
Beitrag zu einem glücklichen Leben.


MATHIAS BINSWANGER ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten und Privatdozent an der Universität St. Gallen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Makroökonomie, Finanzmarkttheorie, Umweltökonomie sowie in der Erforschung des Zusammenhangs zwischen Glück und Einkommen. Er ist Autor des 2006 erschienenen Buches «Die Tretmühlen des Glücks», das in der Schweiz zum Bestseller wurde