Prof. Dr. Gudrun Sander gibt faszinierende Einblicke in die Herausforderungen und Potenziale der Unternehmen im Bereich Inklusion und gibt gleich praktische Ansätze, um die Diversität in Schweizer Unternehmen zu fördern.

Frau Sander, Sie messen im Competence Centre for Diversity & Inclusion (CCDI) der Universität St. Gallen, wie Betriebe Diversität und Inklusion umsetzen. Wie steht die Schweiz da?

Es ist schon einiges passiert, aber es gibt auch noch vieles zu tun. Bei der Geschlechterverteilung sehen wir eine positive Entwicklung, wir hatten noch nie so viele gut ausgebildete Frauen wie jetzt. So steigt auch der Anteil der Frauen im unteren Management. Gegen oben dünnt es sich aus ‒ und ganz oben sind immer noch die Männer in der Mehrheit.

Wie steht es um die anderen Dimensionen der Inklusion – Alter oder Ethnizität zum Beispiel?

Das Thema Alter braucht klar mehr Aufmerksamkeit. Die Entwicklung, dass wir alle immer älter werden, ist schliesslich nicht neu, und trotzdem steht die Arbeitswelt jetzt scheinbar hilflos da.
Meine Empfehlung für Betriebe ist folgender Leitgedanke: Talent hat kein Alter!

Bei der Ethnizität erlebe ich viel Offenheit, aber gleichzeitig auch eine gewisse Unbeholfenheit. Oft haben die Leute das Gefühl, in der Schweiz gäbe es keinen Rassismus, was natürlich nicht stimmt ‒ denken wir nur an den Nachteil von ausländisch klingenden Namen bei der Stellensuche.
Sehr gefordert ist die Schweiz zudem beim Thema Behinderungen. Es gibt viele unsichtbare ‒ psychische ‒ Beeinträchtigungen. Unternehmen müssen ein vertrauensvolles Klima schaffen, in welchem eine solche Einschränkung kommuniziert werden kann, ohne in einer Schublade zu landen.
Es gibt also noch viel Potenzial.

Was braucht es um bei der Inklusion von der blossen Theorie ins Handeln zu kommen? Nur mit der Anstellung diverser Mitarbeitenden ist es wohl kaum getan…

Genau, man muss es andersherum angehen: Firmen müssen zuerst eine inklusive Kultur aufbauen ‒ mit einer inklusiven Führung, inklusiven Prozessen und Strukturen. Dann wird auch die Diversität automatisch grösser.

Wie kann diese Kultur aufgebaut werden?

Eine inklusive Führungskultur bedeutet: Strukturen schaffen, die nicht von vornherein etwas ausschliessen. Dazu müssen Prozesse angepasst werden. Wenn ich zum Beispiel weiss, dass sich Frauen weniger bewerben, sobald im Stellenbeschrieb bei den Anforderungen zehn Punkte aufgezählt werden, dann sollte man für diese Beschriebe nur drei oder vier Anforderungen verfassen ‒ so bewerben sich automatisch mehr Frauen.

Dann braucht es für die Umsetzung natürlich Ziele für Führungskräfte, so wie es sie für andere Veränderungsprozesse auch gibt. Das Inklusionsziel soll aber nicht heissen: Wir müssen jetzt zwei Mitarbeitende über 55 einstellen. Sondern: Wir müssen in der Mitarbeitenden-Umfrage einen besseren Wert beim Thema Inklusion erreichen.

Wie gelingt der Shift bei der Sensibilisierung von Geschäftsleitung und Führungskräften?

In meiner Erfahrung holt man Führungskräfte am besten mit dem Thema «Unconscious Bias» ‒ also «unbewusste Stereotype» ‒ ab.
Da geht es um Fragen wie: Welchen Einfluss haben Grösse, Stimme oder Kleidung? Dabei merkt man schnell, wie rasch man Menschen in Schubladen steckt. Wenn ich mit diesen allgemeinen Beispielen starte und dann erst konkrete Themen wie Alter, Geschlecht oder Ethnizität angehe, ist der Widerstand geringer und ich gewinne die Leute eher für die Idee der Inklusion. Und dann müssen Führungskräfte natürlich auf inklusive Führung geschult werden.

Diversität und Inklusion bringen unterschiedlichste Menschen und Charaktere in einem Team zusammen. Kommt es da nicht zu Spannungen?

Vorgesetzte, aber auch Mitarbeitende, sollten sich bewusst machen, dass sie sich auf einer Lernreise befinden und nicht alles von Beginn an perfekt sein muss. Zuhören, ohne zu bewerten, ist ein wichtiges Mantra, insbesondere für Führungskräfte. Reflektieren, es sich eingestehen, wenn man von einem Thema keine Ahnung hat ‒ und sich dann einlesen, weiterbilden.
Die Grundhaltung aller soll sein: Ich bin neugierig, offen und will etwas lernen.

Dass wir alle länger arbeiten müssen, wird zur Tatsache. Ebenfalls, dass Arbeitnehmende über 50 kaum mehr eine neue Stelle finden. Wie lässt sich dieser Gap endlich schliessen?

Es stimmt nicht, dass über 50-Jährige kaum eine Stelle finden, aber: Es dauert deutlich länger, und das ist frustrierend. Hier braucht es auf politischer Ebene eine Weichenstellung.
Die Altersvorsorge angepasst werden: Es muss zählen, was ein Mensch das ganze Leben über einbezahlt hat, anstatt nur die letzten paar Jahre zu betrachten. Und es sollte flexiblere Möglichkeiten bei der Pensionierung geben, sodass wir ‒ wenn wir wollen ‒ über das Pensionsalter hinaus arbeiten können, vielleicht mit reduziertem Pensum.

Was braucht es auf Seiten der Unternehmen?

Rekrutierende müssen ihren Bias überdenken: Wenn ich eine ältere Person rekrutiere, die aus viel Erfahrung und Wissen schöpfen kann, dann kann das ein Mehrwert sein. Firmen müssen sich bewusst machen, welche Vorteile ältere Mitarbeitende mitbringen.

Was können ältere Arbeitnehmende tun, um für Firmen attraktiv zu bleiben?

  1. Signalisieren, dass sie bereit sind, auch über die Pensionierung hinauszuarbeiten ‒ und zwar direkt im CV oder im Bewerbungsschreiben.
  2. Weiterbildungen aufzeigen. Dabei zahlen nicht nur externe Weiterbildungen, sondern auch informelle Weiterbildungen auf dem Job und Dinge, die man dazugelernt hat.
  3. Sich nicht in Konkurrenz mit Jüngeren bewerben. Sie sollten sich bewusst auf stellen bewerben, wo ihre Erfahrung als Stärke angesehen wird.

Über die Autorin

Gudrun Sander spricht über Inklusion und Diversität im Berufsalltag.

Gudrun Sander ist Co-Direktorin des Kompetenzzentrums für Diversität und Inklusion (CCDI) sowie Co-Direktorin der Forschungsstelle für Internationales Management an der Universität St. Gallen.


Weiterführender Lesetipp: Der Blogbeitrag «Stellensuche 45+: Der Weg zur zweiten Karriere».