Der allgemeine Trend zur Selbstoptimierung macht auch vor Hirnjogging nicht halt. Doch lässt sich unser Gedächtnis überhaupt wie ein Muskel trainieren? Barbara Studer, Neuropsychologin und Leiterin von Synapso, der Fachstelle für Lernen und Gedächtnis der Universität Bern, kennt die Antwort.

Für die körperliche Fitness geht man joggen oder in den Kraftraum. Wie halten wir unser Gehirn auf Trab?

Indem wir es vielseitig aktivieren und herausfordern. Natürlich ist das Gehirn nicht wie ein Muskel, der durch Training grösser wird. Vielmehr fördern wir durch einen geistig und sozial aktiven Lebensstil unsere mentale Beweglichkeit, das vernetzte Denken und die Verarbeitungsgeschwindigkeit. Speziell gewinnbringende Übungen im „Gehirn-Fitnessraum“ sind das Lernen einer Sprache oder eines Musikinstruments und das Tanzen. Zudem können wir mit gezielten Gedächtnistrainingsaufgaben, die auf unsere Leistung abgestimmt sind, unsere Konzentration und Merkspanne steigern.

Heute ist das Wissen der Welt stets nur wenige Klicks entfernt — verändert das unsere Merkfähigkeit?

Die Merkfähigkeit ist nicht grundsätzlich schlechter geworden, wir nutzen sie einfach weniger (z. B. Telefonnummern auswendig lernen). Durch das Internet sind wir ablenkbarer und sprunghafter geworden. Studien zeigen, dass Büroangestellte E-Mails durchschnittlich 30 Mal pro Stunde checken, wir durchschnittlich weniger als eine Minute auf einer Homepage verweilen, unser Smartphone mehr als 1500 Mal pro Woche in die Hand nehmen und rund drei Stunden online sind pro Tag. Solche Zahlen machen klar, dass wir unser Gehirn im schnellen und mehrkanaligen Aufnehmen und Verarbeiten von Informationen trainieren und unsere Merkfähigkeit dabei wenig gefordert wird.

Originelle Problemlösungsstrategien sind in der Berufswelt immer gefragter — hilft uns ein bewegliches Gehirn, kreativer zu werden?

Ein regelmässig herausgefordertes und stimuliertes Gehirn kann divergenter, also kreativer denken. Einerseits sammeln wir durch vielseitige Aktivitäten mehr Erfahrung und Wissen, aus denen wir neuartige Ideen kreieren können. Und andererseits führt eine höhere kognitive Flexibilität zu mehr Fantasie. Neben einem beweglichen Gehirn brauchen wir aber auch einen bewegten Körper, der uns zu mehr Denkkraft verhilft. Für beide gilt: Wer rastet, der rostet.

Welche Formen bezüglich kreativen Lernens gibt es?

Unser Gehirn vergisst Abstraktes schnell wieder. Bilder und Geschichten jedoch bleiben hängen, vor allem wenn sie humorvoll, farbig und in Bewegung sind. Damit wird unser Gehirn richtiggehend gefesselt. Nutzen Sie also Ihre Fantasie und visualisieren Sie so viel wie möglich! Neutrale Information wird damit persönlich, konkret und „erlebbar“. Einen Code von 524 beispielsweise merke ich mir mit dem Bild einer riesigen Hand (=5), die einen pinken Socken (=2) über einen kläffenden Hund (=4) stülpt. Oder einen unbekannten Begriff kann man lernen, indem man ein ähnlich klingendes Wort wählt und ein Bild mit den beiden Wörtern kreiert. Window beispielsweise kann ich mir merken, indem ich mir einen starken Windstoss vorstelle, der das Fenster aufschlägt und die Scheibe zerspringen lässt: Wind ‒ ou!

Und wie halten Sie Ihr Gehirn fit?

Mit Musik machen, tanzen und joggen, meine wissbegierigen Kinder mit guten Antworten versorgen, einer herausfordernden Arbeit nachgehen, Neues lernen, gute Freundschaften pflegen, Momente der Entspannung in den Alltag integrieren, zwischendurch etwas Gedächtnistraining. Und viel lachen!


Fordern und fördern Sie Ihr Gehirn

ihirn.unibe.ch


Barbara Studer leitet Synapso, die Fachstelle für Lernen und Gedächtnis der Universität Bern. Die Fachstelle bietet Abklärungen, Beratungen, Interventionen und Trainings für Personen jeden Alters an. Weitere Informationen finden Sie unter: synapsoflg.unibe.ch

Das Gespräch führte ROLF BUTZ, Geschäftsführer des Kaufmännischen Verbandes Zürich bis Ende Mai 2019.