Dr. Benno Wirz ist Philosoph und Kulturwissenschaftler an der Universität Zürich im Studienprogramm Kulturanalyse und befasst sich mit dem gesellschaftlichen Wandel der Gegenwart. Der Philosoph beleuchtet die Hintergründe des Wertewandels und erklärt, warum er optimistisch bleibt.

Herr Wirz, was prägt unsere aktuelle Gegenwart?

Das Lebensgefühl ist geprägt von einer Grundstimmung des Unbehagens. Wir leben in einer Zeit der multiplen Krisen, Konflikte, Kriege, die in ihren globalen Ausmassen viel Verunsicherung mit sich bringen. Bei den aktuellen Kriegen in der Ukraine oder in Nahost beispielsweise steht die globale Rechtsordnung auf dem Spiel, die sich seit dem Zweiten Weltkrieg etabliert hat. Aber kann sie, wenn diese Kriege enden, aufrechterhalten werden? Ähnlich unsicher verhält es sich mit der Klima- und der Biodiversitätskatastrophe: Wir alle beeinflussen mit unserem Verhalten die Krise und sind gleichzeitig davon betroffen. Welche Auswirkungen wird dies in den nächsten 20 Jahren auf unsere Lebenssituation haben? Dies gilt ebenso bei der fortschreitenden Digitalisierung der Gesellschaft. KI wird unseren Lebens- und Arbeitsalltag verändern. Aber welche Arbeitsplätze nehmen uns die Maschinen weg?

Früher gab es auch Kriege und technologische Veränderungen – was ist jetzt anders?

Die Moderne ab 1800, so der italienische Philosoph Giorgio Agamben, zeichnet sich aus durch einen permanenten Ausnahmezustand. Und so gehört auch das Krisengefühl zur Moderne. Erschüttert ist heute aber das Fortschrittsversprechen, wonach alles besser werden wird. Der Wunsch nach einer besseren Zukunft ist immer noch da, aber die Zweifel, ob und wie das gelingen kann, sind heute viel grösser.

Agilität und Flexibilität prägen den Zeitgeist. Woran können wir uns noch orientieren?

Das höchste Ziel des menschlichen Lebens ist Glück. Der griechische Philosoph Aristoteles konstatierte dies bereits vor 2500 Jahren. Um 1800 hat man begonnen, das Glücksversprechen in Verfassungen zu schreiben, etwa in den USA. Heute jedoch hängt die Frage nach dem Glück eng zusammen mit den Konsequenzen des Fortschritts und der Zerstörung, was wieder das Gefühl des Unbehagens aufruft. Es fragt sich: Wie kann ich glücklich leben, ohne dabei zur Zerstörung beizutragen?

Die Forderung nach Sinnhaftigkeit im Leben – und in der Arbeit – wird immer lauter. Ein Modetrend?

Nein, denn der Mensch ist nicht nur ein sinnliches Wesen, sondern auch ein Sinn-Wesen. Egal wie getrieben und gefordert wir sind, wie viel wir leiden oder ob wir schwierigen Lebenssituationen ausgesetzt sind: Wir versuchen, Sinn darin zu entdecken. Das ist mehr als ein Wert, das gehört zum Geborenwerden, zum Leben, zum Lieben und Sterben dazu.

Gibt es unveränderbare, universelle Werte?

Zweifellos. Aber sie müssen immer wieder neu verhandelt werden. Dies kennzeichnen Übergangszeiten wie die unseren. Sie strotzen vor Widersprüchen und Ambivalenzen, weil alte Ordnungen sich auflösen, Alternativen sich aber erst ausbilden. Mittlerweile herrscht weitestgehend Konsens darüber, dass Diskriminierungen wie Rassismus, Antisemitismus oder Sexismus keinen Platz mehr haben. Zugleich sind wir mit diesen Diskriminierungen heute immer noch konfrontiert oder auch wieder neu konfrontiert. Oder denken Sie an Diversität und Inklusion: Gesellschaftlich sind diese Werte nicht ganz einfach zu etablieren, während sie Einzug halten in Firmenkulturen von global operierenden Grosskonzernen. Die Diskussionen um die geltenden Werte einer Gesellschaft können durchaus die Form eines Kulturkampfes um diese universellen Werte annehmen, gerade weil sie ambivalent und widersprüchlich sind. Und damit sind wir wieder beim Gefühl des Unbehagens: Es wird Veränderungen ‒ und damit auch Werteveränderungen ‒ geben. Und dies birgt Potenzial für Fortschritt, macht aber auch Angst.

Und wer gewinnt diesen Kulturkampf der Werte?

Ich halte mich an Sigmund Freud: Er sieht gesellschaftliche Entwicklung als Resultat zweier miteinander ringender Mächte ‒ die eine zerstörend, die andere lebensbejahend. Und, wie Freud, habe ich die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben, dass die lebensbejahenden Mächte gewinnen und wir einen Wandel zum Besseren und zum menschlichen Glück erleben werden. Aber wer vermag dies schon vorauszusehen?


Möchten Sie verstehen, was Werte eigentlich sind und wie sie unser Leben prägen? Dann lesen Sie den Blogartikel «Werte verstehen – Orientierung im Leben und Beruf».