Solidarität ist das Schlagwort der Stunde. Welche Bedeutung hat Solidarität in einer Gesellschaft? Johannes Ullrich, Professor für Sozialpsychologie, über Sinn und Grenzen unserer Solidarität.

Sie gehört zum sozialen Wesen von uns und existiert immer schon in der Menschheitsgeschichte. Und zwar überall dort, wo Menschen erkennen, dass sie voneinander abhängig sind und allein nicht existieren können. In modernen Gesellschaften wird Solidarität eher als Mangel erlebt.

In der Psychologie gibt es zwei unterschiedliche Bedeutungen von Solidarität. Einerseits beschreibt sie die Beziehungen zwischen den Mitgliedern einer Gruppe, zum Beispiel innerhalb eines Betriebs oder eines Teams. Sind diese gut, setzen sich die Mitglieder füreinander ein und unterstützen das Erreichen der Gruppenziele. Andererseits gibt es Solidarität über Gruppengrenzen hinweg. So haben sich in den 1980ern in England schwule und lesbische Menschen mit den Anliegen der streikenden Bergarbeiter solidarisiert. Später marschierten die Bergleute bei der «Lesbian and Gay Pride Parade» mit. Beides ist in zunehmend individualisierten Gesellschaften nicht mehr selbstverständlich, sondern muss eingefordert werden.

Für manche ist Solidarität nichts anderes als ein Gefühl, denken wir etwa an den Applaus für das Pflegepersonal, den wir während Corona erlebt haben. Echte Solidarität jedoch ist mit Kosten und Aufwand verbunden: Wer einer neuen Arbeitskollegin bei einem ihr unvertrauten Ablauf hilft, muss vielleicht Überstunden machen. Léon Bourgeois, Begründer des Völkerbundes, betrachtete Solidarität als unsere Schuldigkeit. Wir sind Teil eines gesellschaftlichen Zusammenhangs und könnten nicht sein ohne die Leistungen der anderen. Also müssen wir auch unseren Teil dazu beitragen.

Wir haben dazu die Google-Suchanfragen der letzten Jahre ausgewertet. Es gab zwei herausragende Ereignisse: Die Menschen informierten sich über Solidarität, als es mit Corona losging und in Italien der erste Lockdown kam, und dann über den Mord an George Floyd durch einen amerikanischen Polizeibeamten. In beiden Fällen gab es konkretes Engagement: Bei Corona die Nachbarschaftshilfe, Leute sind füreinander einkaufen gegangen, haben füreinander gesorgt. Das Thema Rassismus ist ganz besonders für junge Leute zu einer wichtigen Angelegenheit geworden, für viele war es der Einstieg ins politische Engagement.

Die Gefahr besteht in der Tat. Viele sozial engagierte Menschen kennen das Phänomen, dass es irgendwann einfach zu viel wird. Aber das lässt sich wieder ins Gleichgewicht bringen. Oft hilft es, wenn man sich sagt, dass man nur dann effektiv für andere da sein kann, wenn man auch mal nein sagt.

«Generell passen wir Menschen uns sehr schnell an aussergewöhnliche Umstände an, das gehört zum psychologischen Immunsystem.»

Generell passen wir Menschen uns sehr schnell an aussergewöhnliche Umstände an, das gehört zum psychologischen Immunsystem. Selbst wenn die Krise nicht vorbei ist, setzt eine Gewöhnung ein und das Handeln erscheint weniger dringlich.

Wenn die Menschen vergessen, dass sie einander brauchen. Das wird durch
manche gesellschaftlichen Entwicklungen gefördert: Nehmen wir die Altersvorsorge. In manchen Kreisen wird scheinbar davon ausgegangen, dass jeder schon für sich selbst sorgen kann. Dabei wäre eine Stärkung der AHV auch eine Versicherung für die Solidarität, einen Grundpfeiler der Schweizer Gesellschaft.

Eine Gesellschaft, die Solidarität verlernt hat, ist zumindest schwer erkrankt.