Unsere Gesellschaft baut auf eine vielschichtige Solidarität. Am Arbeitsplatz zeigt sie sich im kollegialen Miteinander, in der persönlichen Verbundenheit, der Rücksichtnahme und der Verantwortung füreinander.

Der Kaufmännische Verband verdankt seine Gründung 1861 jungen Kaufleuten, die sich weiterbilden wollten. Aus dem Wunsch nach persönlicher Entwicklung und beruflichem Weiterkommen formten sie eine Solidargemeinschaft im Interesse der Weiterbildung. Solidarität war für den neu gegründeten Verein direkte Zweckbestimmung.

Dienstleistung oder Solidarität?

Bis heute ist der Verband Ausdruck gelebter Gemeinschaft. Die Interessenvertretung der Angestellten in kaufmännischen Berufen, die Förderung ihrer Aus- und Weiterbildung sowie die Pflege des beruflichen Netzwerks gehören zu seinem Grundauftrag. Der Verband ist ein Unternehmen, das gewisse Dienstleistungen für seine Mitglieder kostenlos anbietet, kostenintensivere individuelle Leistungen jedoch verrechnet. Ganz nach dem Grundsatz: Solidarität ja, doch nicht schrankenlos, sondern klar strukturiert und den Leistungszielen entsprechend. Dabei sind betriebswirtschaftliche Prinzipien zu beachten, weil das Unternehmen den Verbandsmitgliedern gehört und sich selber tragen muss.

Materielle Unterstützung nicht mehr im Vordergrund

Solidarität in materieller Hinsicht ist in unserer Gesellschaft Schritt für Schritt privaten Unternehmen und staatlichen Sozialwerken übertragen worden. Krankenkassen, Versicherungen und Pensionskassen entstanden als private Solidargemeinschaften. Die KV-Arbeitslosenkasse und ihre Altersvorsorge wurden dadurch überflüssig. Einzig die «Weihnachtssammlung», die finanzielle Unterstützungsbeiträge an Bedürftige ausrichtet, ist noch aktiv. An den kaufmännischen Schulen geniessen Verbandsmitglieder in der Weiterbildung zwar vorteilhafte Konditionen, doch an Rabatte aller Art haben sich Konsumentinnen und Konsumenten längst gewöhnt. Solidarität primär aus sozioökonomischen Gründen gibt es heute kaum mehr.

Solidarität als Ausdruck von Verantwortung

Communitys, also informelle Zweckgemeinschaften mit gleichen Interessen, sind prägend für die Solidarität im Alltag der individualisierten Gesellschaft. Sie sind die schnelllebige, virtuelle Form der klassischen Interessengemeinschaften, die gegenseitige Unterstützung und Hilfeleistung bieten. Die Forderungen nach Integration von Minderheiten, nach Diversität in der Wirtschaft und Toleranz in der Gesellschaft, ja nach einer klimapolitischen Wende sprengen den engen Rahmen der Politik und erfassen breite gesellschaftliche Kreise. Sie schaffen neue solidarische Mehrheiten in der Bevölkerung und lösen Bewegungen jenseits von Eigeninteressen aus: Solidarität aus Verantwortungsgefühl für die Gemeinschaft, nicht aus individuellem materiellem Bedürfnis.

Wertegemeinschaften sind tragfähig

In diesem Umfeld hat der Kaufmännische Verband einen Wertekatalog erarbeitet, der als Richtschnur für sein Wirken dient. Wertschätzung für Mitglieder, Mitarbeitende sowie Kundinnen und Kunden, Gemeinsinn in der freiheitlich-demokratischen Gesellschaft, Innovationsförderung und Offenheit für Neues, Qualität in der Arbeit und in der Servicebereitschaft bilden die Grundlage für eine solidarische Unternehmenskultur, die im betrieblichen Alltag gelebt werden soll. Fortschrittliche Führungsgrundsätze und ein achtsamer Umgang unter den Teammitgliedern prägen die Zusammenarbeit. Menschliche Solidarität wird als gemeinsame Leistung und gemeinsames Ziel angestrebt ‒ und täglich gelebt.


Autor

WILLY RÜEGG

Historiker, Buchautor und Präsident des Veteranen- und Seniorenvereins des Kaufmännischen Verbands Zürich (VSV)


Solidarität: Was bedeutet das?